Zu Joachim Triers Film Sentimental Value (Kinostart: 4.12.2025)
Fast eine Mogelpackung: Sentimental Value ist ein hervorragend gespieltes und souverän inszeniertes Familiendrama. Aber warum erzählen Joachim Trier und sein Co-Autor die meiste Zeit nicht, worum es eigentlich geht? Zweieinhalb Stunden ist es ein anderer Film als er sein sollte.
Obwohl der Film schon eine kleine Weile läuft, scheint die Geschichte doch erst mit dem Zwiegespräch von Vater und Tochter zu beginnen – zwischen dem abgehalfterten, altersblassen Kinoregisseur Gustav Borg (Stellan Skarsgård) und der Theaterschauspielerin Nora (Renate Reinsve), Mitte 30. Vor ein paar Tagen war die Beerdigung von Gustavs Exfrau, Noras Mutter. Nun sitzen sie einander bei einem Glas Wein in einem gehobenen Bistro gegenüber, in dem sie für ein Paar gehalten werden.
Gustav hat um das Treffen ersucht. Nora ist misstrauisch, fragt nach seinem Befinden. Der Vater gibt vor, im Filmgeschäft immer noch gefragt zu sein- und ein neues Projekt vorzubereiten, und zwar für Nora. Er zieht eine rote Discounter-Plastiktüte hervor und daraus einen dicken Stapel Papier, der gerade frisch aus dem Drucker gekommen sein mochte. Das sei das Drehbuch, sie solle es bitte lesen.
Nora ist nicht entzückt, sondern erschüttert. Aber sie bleibt standhaft. Sie fragt, ob er sie im Theater gesehen hat, fragt, wie er die Fernsehserie fand, in der sie mitgespielt hat. Gustav reagiert abfällig, Theater möge er nun mal nicht, und in der Serie, nun, im Fernsehen, da gebe es eben keine starken Bilder. Da steht Nora auf, verkündet, mit ihm nicht arbeiten zu wollen. Abgesehen davon, dass sie ihrem Vater übelnimmt, die Familie im Stich gelassen zu haben, verkörpert sie mit ihrer Haltung und Entgegnung eine Art reductio ad absurdum: Wenn er sie als Schauspielerin nicht anerkennt, warum soll sie dann für ihn vor der Kamera stehen?
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| Nora (Renate Riensve, l.) und ihre Schwester Agnes (Inga Ibsdotter Lilleaas) haben unter der Abwesenheit des Vaters sehr gelitten. Quelle: Plaion Pictures. |
Das Schuss-Gegenschuss-Verfahren war im Kino schon lange nicht mehr so energiegeladen wie in Sentimental Value. Gegen die Verve, mit der Nora den Vater bei ihrem Treffen zur Rede stellt, taucht Regisseur Trier Gustav in geradezu mephistophelisches Schwarz der Kleidung und der hohen Lehne der gepolsterten Sitzbank. Und er bricht diesen Eindruck doch wieder mit Gustavs vor Anspannung und Ungewissheit starrer Miene und nicht zuletzt mit dem Requisit der roten Discounter-Plastiktüte, die an das rote Obstnetz erinnert, das Skarsgard als belemmerten Zuhörer der Titelheldin von Lars von Triers Nymphomaniac an der Hand baumelt. Bevor Gustav und Nora zu sprechen anheben, bewegen sie stumm die Lippen, wie um zu prüfen, ob sie genug Kraft zum Sprechen haben.
Der Schlagabtausch zwischen Vater und Tocher – man möchte verbessern: zwischen Tochter und Vater – ist so fulminant, dass der Gedanke froh macht, noch mehr als zwei Stunden Film vor sich zu haben. Aber es kommt anders als man denkt – erst etwas, dann ganz anders.
Wenn Filmregisseure mit dem Alter auch vielleicht in ihrer Kreativität nachlassen und unzeitgemäß wirken, so heißt das doch nicht unbedingt, dass sie das manipulative Talent verlieren, mit dem sie ihre ambitionierten kreativen Phantasien gegen erhebliche Widerstände und Widrigkeiten durchzusetzen pflegen. Bernard Eisenschitz hat das in seiner stupenden Biografie über Nicholas Ray schonungslos dargelegt. Gustav Borg ist mindestens vom selben Kaliber wie der Schöpfer von Denn sie wissen nicht, was sie tun und Johnny Guitar. Als Hollywoodstar Rachel Kemp – schillernd dargeboten von Dakota Fanning – im Rahmen einer Retrospektive zu Gustav Borgs Werk – natürlich in Frankreich! – bei der Vorführung seines letzten, zur Zeit der Nazi-Besetzung Norwegens angesiedelten Spielfilms einen Weinkrampf bekommt, ihn zum Dinner einlädt und ihn geradezu anfleht, einen Film mit ihr zu machen, ist der Senior nicht mehr zu halten und zieht alle Register. Schließlich hat er ja ein Projekt, das Projekt, das Nora abgelehnt hat, in dem es scheinbar um seine Mutter geht, eine Widerstandskämpferin, die von der Gestapo brutal gefoltert worden ist und sich in den 1950er Jahren das Leben genommen hat.
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| Der alternde Regisseur Gustav Borg (Stellan Skarsgård) wird mit Hollywoodstar Rachel Kemp (Ellen Fanning) drehen. Quelle: Plaion Pictures. |
Er flirtet und säuft mit Rachel, um sie von den Einflüsterungen ihrer skeptischen Agenten abzuschotten. Zu Noras Bestürzung lädt er sie in das Haus der Familie ein, das er nun geerbt hat, und führt sie die imaginären Wege seiner geplanten Kamerafahrten entlang, ihr suggerierend, sie gleichberechtigt kreativ teilhaben zu lassen: „What do you think?“ Rachel bezweifelt, dass der Haken für die Deckenlampe im Wohnzimmer fest genug wäre, wenn man sich daran erhängen würde. Worauf Gustav erwidert, für seine Mutter habe es gereicht. Den Hocker, auf dem Rachel gerade sitze, habe seine Mutter dann weggestoßen. Rachel springt erschrocken auf.
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| Nora (Renate Riensve) ist schockiert über Rachel Kemps Anwesenheit im Haus der Familie. Quelle: Plaion Pictures. |
Wie es gelaufen sei, fragt Agnes (Inga Ibsdotter Lilleaas), Noras Schwester, Gustavs andere Tochter. Der Vater findet: gut. Er habe Rachel erzählt, seine Mutter hätte sich im Wohnzimmer erhängt, auf dem Hocker da stehend. „Den von Ikea?“ fragt Agnes nach. Ihr bleibt das Lachen im Halse stecken. Auch sie wird nicht verschont. Als sein kindliches filmisches alter ego visiert Gustav ihren kleinen Sohn an. Indem er ihm zeigt, wie er mit seinem Smartphone wirklich witzige Videos machen kann, in denen Opa in Zwergengröße ordentlich auf die Mütze kriegt und mit einer Spielzeugschaufel in der Brust ringt, gewinnt er ihn mühelos für sich. Und irgendwann trägt auch Nora ihr Scherflein bei. Als Rachel ihr ihre Zweifel gesteht, ob sie wirklich Gustavs Mutter spielen kann, bestärkt Nora sie mit geradem Blick und fester Stimme dabeizubleiben, weil ihr Vater etwas in ihr gesehen habe, das unbedingt zum Vorschein gebracht werden müsse…Inwieweit Gustav bei den Treffen mit seinem Produzenten und seinem ehemaligen Kameramann seinerseits der Manipulation anderer erlegen ist, bleibt offen. Wunderbarerweis wirkt nichts daran zynisch. Stattdessen ruft es Tränen der Rührung hervor, weil hier jemand eben auch mit Taschenspielertricks seine vielleicht letzte Chance wahrnehmen will, ein hehres Filmprojekt zu verwirklichen.
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| Filmregisseur Gustav Borg (Stellan Skarsgård) versucht mit flamboyantem Charme, Hindernisse und Widerstände gegen sein neues Projekt zu überwinden. Quelle: Plaion Pictures. |
Misslich ist nur, dass diese Manipulationen mit ihren kalkulierten Herab- und Heraufsetzungen künstlerischer, schauspielerischer, inszenatorischer oder ethischer Potenz fast nur für Leute erkennbar sind, die mit Filmbranche und Theater(un)wesen vertraut sind. Das aber ist ein relativ kleiner Kreis. Diesen Nachteil bringen selbstreferentielle Filme, die realistisch sein wollen, mit sich. Um einen größeres Publikum zu gewinnen, hätte es etwa parodistischer Akzente und Overacting bedurft. Dafür ist Sentimental Value jedoch zu melancholisch angelegt.
Die Kurve hin zu einem breiteren Zuschauerzuspruch könnte Trier und seinem Co-Autor Eskil Vogt indes mit dem abrupten Richtungswechsel ihrer Geschichte kurz vor Schluss gelingen. Auf einmal wird die Krise eines anderen Familienmitglieds als Sujet des geplanten Films benannt, ja geradezu aus dem Hut gezaubert. Der Stoff wird familientherapeutisch aufgeladen. Die Cahiers du cinéma sehen Sentimental Value damit zu nahe bei Ibsen, Strindberg oder Bergman, während Positif darum bemüht ist, klare Abgrenzungen gegen diese Vorbilder zu markieren. Aber der inhaltliche Richtungswechsel und seine erzählethischen Konsequenzen wird weder hier noch dort problematisiert. Mit dem Umschwenken läuft Sentimental Value ins Konventionelle, Verlogene und auch anderweitig Fragwürdige aus, weckt mehr allgemeines Interesse, aber auch immense Zweifel. Statt Gustav Borg wird nun der Film selbst durch sein Wirkungskalkül im negativen Sinne ergreifend manipulativ.
Zugegeben, Sentimental Value ist nicht sparsam mit thematischen Angeboten. Sie gehen über die Chronik einer Filmproduktion hinaus. Zur Eröffnung stellt die Stimme einer alten Frau das Haus der Familie Borg vor, und man erwartet schon skandinavische Möbelpoesie à la Jens Peter Jacobsens Niels Lyhne. Dieselbe Stimme trägt zudem sporadisch Abschnitte aus der Familiengeschichte vor, und da dabei rasch der Name Nora fällt, der an ein gleichnamiges Theaterstück von Henrik Ibsen gemahnt, hätte man sich nicht gewundert, einem Familienzerfallsfilm beizuwohnen. Ebenfalls sehr früh zieht eine lange Sequenz die Zuschauer in den Wirbel einer Panikattacke Noras vor einem ihrer Bühnenauftritte. Aber wohin die Reise dann gefühlt zehn Minuten vor dem Ende geht, gleicht jenen Last-minute-Rettungsaktionen, mit denen schlechte Filme als gute in Erinnerung bleiben wollen. Das hat Sentimental Value mit seinem subtilen Sondieren der Mühen und Finten des Filmemachens eigentlich nicht nötig.
Freilich bestitzt Sentimental Value nun Oscar-Potenzial. Für die Auszeichnung in der Kategorie bester fremdsprachlicher Film hat Norwegen den Streifen eingereicht, mit guten Aussichten. Alle paar Jahre wieder feiert die Traumfabrik sich selbst oder zumindest das Filmemachen – am besten, wenn damit ein guter Zweck verbunden ist. Erinnern wir uns: In Argo hat Hollywood die Freiheit gebracht, in The Artist nach den Missverständnissen des Stummfilms der Tonfilm die Liebe. In Birdman kommt die Schauspielkunst von einem ausrangierten Superheldenfilmstar, und Lala Land suggeriert, dass Talent für Erfolg genüge. Dem folgt nun Sentimental Value mit einer weiteren wohlfeilen Botschaft, nämlich dass die Kunst – eigentlich das Filmemachen – seelische Wunden heile und eine Art neues Zuhause biete. Die Academy, die über die Oscars entscheidet, dürfte zudem die naturalistische Spielweise und die Tatsache, dass eine US-amerikanische Darstellerin eine tragende Rolle innehat, mit Wohlwollen zur Kenntnis nehmen.
Dem ist kritisch entgegenzusetzen, dass man nicht so einfach mit Themen jonglieren darf, die sehr ernst zu nehmen sind. Sentimental Value bezieht über weite Strecken seine Sympathie daraus, dass Gustav einen Film drehen will, der sich dem Schicksal einer Widerstandskämpferin widmet, und dafür alle Hebel in Bewegung setzt. Dieses Thema wird mirnichts, dirnichts gegen ein anderes ausgetauscht. Dieses ist zwar auch wichtig, wird aber nur minimal angerissen. Und der Thementausch selbst liefert die Befassung mit dem Nationalsozialismus und seinen zerstörerischen Folgen bis in die Nachkriegszeit der Beliebigkeit aus. Und wenn das neu auftauchende Thema dem Autorenduo von Sentimental Value wirklich am Herzen gelegen hat, ist es umso bedauerlicher, dass sie nicht den Mumm gefunden oder über das kreative Vermögen verfügt haben, es direkt zur (Bild-)Sprache zu bringen. So müssen sie denn, um die Einheit des Films zu wahren, in der vorletzten Einstellung, mit Gustavs prüfend-hinterlistigem Blick auf Nora, die ganze Handlung als eine unermessliche Intrige ausgeben, die einem alten Mann seinen unterdrückerischen Willen lässt. Nimmt man Petzolds Miroirs no. 3 hinzu, der an der gleichen erzählethischen Schwäche leidet (siehe Post 1), verheißt das für das Autorenkino nichts Gutes.
Andreas Günther















