Über Zugangsschwierigkeiten zu einem vielseitigen Werk - erster Teil
Einem ihrer beiden berühmtesten Romane verdankt Martin Scorsese seinen wahrscheinlich schönsten Film. Die Streaming-Industrie hat in ihr eine Art amerikanische Jane Austen entdeckt. Aber die mediale Strahlkraft droht die literarische der Edith Wharton zu verdunkeln.
Die Serie The Buccaneers nach dem gleichnamigen letzten, unvollendet gebliebenen Roman von Edith Wharton (1862-1937) bekommt eine dritte Staffel, verkündete der Streaming-Dienst Apple TV letzten Mittwoch. Nach dem Verständnis der Autorin handelt es sich bei den ‚Buccaneers‘ um Piratinnen – um Piratinnen auf dem Londoner Heiratsmarkt von 1870. Ein Quartett von jungen amerikanischen Frauen ist auf der Suche nach der besten Partie, im materiellen wie romantischen Sinne. Sie spinnen Intrigen und verfangen sich in denen der anderen, geraten an Kapitalisten mit verblüffenden Schwächen und verdorbene Prinzen mit leeren Taschen, rebellieren gegen die Konventionen und wollen doch mit deren Wind segeln…Die Fernsehmacher haben keinen Grund, an Whartons Basiskonzept etwas zu ändern.
Ebensowenig Martin Scorsese, als er Anfang der 1990er Jahre The Age of Innocence verfilmte, neben The House of Mirth das berühmteste Werk der Autorin. Mit einer glänzenden Besetzung – Daniel Day-Lewis, Michelle Pfeiffer, Winona Ryder – schlug das Widerspiel von Herz versus Herrschaft der Konvention, von elegischen Kamerafahrten versus ironisch-desillusionierender Erzählerinstimme Millionen Zuschauer in Bann.
The Age of Innocence ist das Schmuckstück unter den bisherigen Wharton-Adaptionen für Film und Fernsehen. Hollywood hat die Autorin früh für sich entdeckt. Bereits 1918, gut 14 Jahre nach dem Erscheinen, ist House of Mirth verfilmt worden, und bevor sich Scorsese buchstäblich ans Werk machte, sind 1924 und 1934 bereits Versionen von The Age of Innocence über amerikanische Leinwände geflimmert, zumindest der Tonfilm mit prominenter Besetzung. Knapp 30 Verfilmungen von Wharton-Stoffen liegen inzwischen vor.
Über Einnahmen von Broadway-Aufführungen und aus Hollywood hat sich Edith Wharton zu Lebzeiten sehr gefreut. Sie erlaubten ihr, ein luxuriöses Leben mit zwei opulenten Wohnsitzen in Frankreich zu führen und ausgedehnte Reisen im mediterranen Raum zu unternehmen. Ihr nicht unbeträchtliches ererbtes Vermögen hätte dazu nicht ausgereicht, zumal es durch den Börsenkrach von 1929 erheblich geschrumpft war, und auch nicht die Einnahmen aus ihren Büchern. Trotz Bestsellern hat Wharton sich immer ängstlich gefragt, ob denn auch Menschen, die „Bananen zum Frühstück“ aßen, sich für ihre Geschichten interessierten, die doch meist in feinen Kreisen angesiedelt sind. Tatsächlich stagnierte in den Depressions-Jahren der Verkauf ihrer Romane und Erzählbände im ein- und zweistelligen Bereich. Über ihre ganze schriftstellerische Karriere hinweg blieb ihr Problem, für die einen zu freizügig und für die anderen zu altmodisch zu erscheinen.
Spätestens Scorseses Film läutete eine mediale Wiederentdeckung ein. Die Erbin ihres Copyrights durfte jubeln, über „the hottest literary property in Hollywood“ zu verfügen. Seltsamerweise interessieren sich die Akademiker für die audiovisuelle Exploration von Wharton sehr wenig. Ihre letzte Biografin, Hermione Lee, verwendet darauf in ihrer sehr umfangreichen Lebensbeschreibung nur sehr wenig Tinte. Sie behauptet sogar, die Age of Innocence-Filmversion von 1934 sei gar nicht zustande gekommen, was definitiv nicht stimmt.
Dafür ist Lee sehr gut darin, den literarischen Reiz von Whartons Schreiben nahezubringen – so eindringlich und umfassend, dass man verzweifelt wünscht, die Autorin dürfte noch einmal auf die Erde zurückkehren, um einige ihrer gewagtesten und wahrscheinlich auch deshalb nicht zu Ende geführten Projekte in einer freieren Zeit wie der heutigen zum Abschluss bringen. Gleichwohl verdienen ebenso die abgeschlossenen Werke eine aufmerksame Lektüre. Sie kann durch Bearbeitungen für andere Kuntsformen nicht ersetzt werden, ist durch sie aber in den Hintergrund gedrängt worden. Doch davon in den nächsten Posts zu Wharton mehr.
Andreas Günther
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