Sonntag, 16. November 2025

Einzelgängerwahn

 

Zu Ari Asters Film Eddington (Kinostart: 20. November 2025)

Themenkonstanz trotz Genrewechsel: Mit Eddington tauscht Regisseur und Autor Ari Aster das Horrorfach gegen Politsatire und –thriller mit Western-Touch. Die Bearbeitung seines angestammten Sujets, wahnhafte Sinngebung für Leben und Tod, wird dadurch zur Gratwanderung.

Ari Aster lehrt das Fürchten. Dabei entsteht die Furcht überraschenderweise aus dem Verlangen, Leben und Tod Sinn zu geben. Es steuert die Geschichten, die der Autor und Regisseur aus New York City erzählt. Angefangen hat es für das große Publikum mit Hereditary – das Vermächtnis. Ein junges Mädchen kommt auf ebenso brutale wie absurde Weise ums Leben. Ihr Bruder fühlt sich daran schuldig. Bis sich nach mystisch-mysteriösen, übernatürlichen Vorgängen epiphanieartig das Unglück als Walten eines okkulten Gottes erweist, der den Bruder der Toten zu seinem Nachfolger erkoren hat. In Midsommar verzweifelt eine junge Frau am spektakulären Selbstmord ihrer Eltern und ihrer Schwester. Sie findet neuen Halt im Amt der Maikönigin auf der Sonnenwendfeier einer Sekte im hohen Norden Schwedens– allerdings auf Kosten des Lebens der jungen Männer, die sie dorthin begleitet hat. Beau is afraid taucht in das mentale Universum eines Mannes mittleren Alters ein, der von den Phobien geplagt ist, die ihm seine überfürsorgliche Mutter eingeflößt hat, aber ihm auch ein Dasein in Phantasien von Schrecken und überraschender Errettung erlaubt.

Mit der psychoanalytischen Theorie Lacans gesprochen, geben bei Aster eigene und fremde Wahngebilde sehr singulären Existenzformen ein Fundament, die andernfalls von Sinnlosigkeitsgefühlen zerfressen würden, ausgelöst durch Schuld, Trauer oder Lebensunfähigkeit. Um davon zu erzählen, hat sich Aster bislang des Horror-Repertoires bedient, des subtilen Gothic-Schauers wie des blutigen Gore, archaisch-religiös eingefärbt wie in den ersten beiden Filmen oder tragikomödiantisch wie im dritten Film. Mit dem neuesten, Eddington, betritt er einerseits Neuland, andererseits liefert er auch Retroästhetik. Der Horror weicht Politsatire und –thriller mit Westernanklängen. Das Erzähltempo ist das des New Hollywood der 1970er Jahre. Hal Ashbys Willkommen Mr. Chance trifft auf Alan J. Pakulas Zeuge einer Verschwörung und Sam Peckinpahs Junior Bonner und Die Killer-Elite. Trotzdem ist Eddington ganz ein Film von heute – und entsprechend schmerzhaft.

Benannt ist der Film nach einem erfundenen Städtchen in New Mexico, USA. Eigentlich handelt es sich um ein verschlafenes Nest. Aber im Mai 2020 wühlt die große Politik es auf. In der Corona-Pandemie spalten Masken-Mandat, Sicherheitsabstand, Hygienevorschriften und Lockdowns die Bewohnerschaft. Paranoia regiert: Verschwörungstheorien sprudeln aus den digitalen Endgeräten, vor allem aus Handys. Die werden auch dazu benutzt, Gesinnungsbekenntnisse für die sozialen Medien zu erstellen und einander zu überwachen. Im Bewegt-Bild festgehaltenes Fehlverhalten – nach welcher Definition auch immer – wird mit dem Internet-Pranger bestraft. Der verkrachte Sheriff von Eddington, Joe Cross (Joaquim Phoenix) hat es nicht leicht, für Recht und Ordnung zu sorgen. Er macht sogar alles noch schlimmer.

Seine beruflichen und privaten Probleme nehmen Überhand. Er schafft es nicht, einen volltrunkenen, geistig verwirrten Obdachlosen aus einer Bar zu entfernen, ohne mit einem Knock-Out auf der Straße zu landen. Bürgermeister Ted Garcia (Pedro Pascal) macht ihn ständig zur Schnecke. Ebenso regelmäßig unterliegt er im Kompetenzgerangel mit dem indianischen Kollegen Officer Butterfly Jimenez (William Belleau) aus dem angrenzenden Reservat. Seine Frau Louise (Emma Stone) schläft nicht mehr mit ihm. Schon reflexartig sucht er nach jeder Abweisung Trost beim Newsfeed seines Handys. Louise findet Erfüllung in der Herstellung hässlicher Puppen, mit deren mageren Verkaufszahlen sie sich brüstet, nicht ahnend, dass Cross seine Deputies zu den Käufen angehalten hat. Schwiegermutter Dawn (Deirdr O´Connell) hat sich bei dem Paar eingenistet und serviert jeden Tag ein neues Corona-Komplott zum Frühstück.




Abbildung 1: Dawn (Deirdr O´Connell, r.) hält für ihre Tochter Louise (Emma Stone, l.) eine neue Verschwörungstheorie zu Corona bereit. Quelle: Leonine Distribution.

Und schließlich hadert Cross als Asthmatiker mit dem Mund-Nasen-Schutz. Es reicht: Per social media-Ankündigung kandidiert er, um Bürgermeister Gracia abzulösen.



 

Abbildung 2: Sheriff Cross (Joaquim Phoenix) kriegt in seiner Heimatstadt Eddington nur langsam Oberwasser. Quelle: Leonine Distribution.

Seine Kampagne lässt sich gut an. Die Deputies denken sich Slogans aus und malen Plakate. Einer hat auch ein bisschen organisatorisches Wissen drauf - dass sie einen Schatzmeister für die Spendengelder bestimmen müssen, usw. Den schwarzen Deputy Cooke (Michael Ward) befördert Cross vorsichtshalber schon einmal. Er findet bei manchen Wählern ein offenes Ohr, vor allem bei Gegnern des geplanten Rechenzentrums, das ihrer Meinung nach zu viel Ressourcen verbrauchen würde. Bürgermeister Garcia bekommt sogar etwas Angst, seine Wiederwahl könnte scheitern.

Abbildung3: Sheriff Cross (Joaquim Phoenix, l.) kandidiert für die Abwahl von Bürgermeister Garcia (Pedro Pascal, r.) - zunächst erfolgreich. Quelle: Leonine-Distribution.

Aber dann stirbt George Floyd vor den Augen der Welt durch Polizeigewalt, und auch in den eigentlich verlassenen Straßen von Eddington erhebt sich die ‚Black lives matter‘-Protestbewegung, jung, ‚woke‘, rebellisch. Sheriff Cross, als Teil des Problems Polizeigewalt gesehen, verheddert sich in reaktionären Phrasen und zweifelhaften Anweisungen an seine Deputies. Als seine Beschuldigung, Garcia habe Louise in ihrer Kindheit sexuell missbraucht, zum Rohrkrepierer wird, sät Cross, mit den Symptomen einer Corona-Infektion ringend, blutige Hinweise auf eine Antifa-Verschwörung.


Abbildung 4: Sheriff Cross (Joaquim Phoenix, M.) und seine Deputies machen angesichts der 'Black lives matter'-Proteste keine gute Figur.Quelle: Leonine Distribution.

Bis hierhin bewahrt der Film Bodenständigkeit von geradezu dokumentarischer Strenge. Die längere Einstellung dominiert. Die Kamera bewegt sich eigentlich nur, wenn sie Cross´ tristen Blick aus seinem Dienstwagen übernimmt oder seinen ineffektiven Aktionismus zeigt. Alles Handeln wirkt quälend und langwierig. Dem Tempo der sozialen Medien, in denen sie versinken, hinken die Akteure hoffnungslos hinterher. Aber gerade diese Merkmale finden die exzessive Aufmerksamkeit der Filmemacher. Wirklich dynamisch ist nur die vielleicht etwas zu großzügig unterlegte, eher spannungsverheißende als -erzeugende Musik von Bobby Krlic (The Haxan Cloak) und Daniel Pemberton.

Doch als Cross zum Äußersten geht, hebt der Film buchstäblich visuell ab und damit auch von seiner bisherigen Erzählweise, mit zwei hyperrealistischen Einstellungen im Luftraum, die eine Schwarzblende von dem trennt, was folgt. Es sind dies die sparsamen Zeichen dafür, dass die anschließende drastische, rasante Videospiel-Ästhetik mit ihrem brutalen und sarkastischen Durchspielen einer unmöglichen Zukunft nicht die Konstruktion einer Realitätsfiktion beabsichtigt. Dieser Teil des Films ist absolut unverzichtbar. Er macht ihn erst vollständig.

Die Cahiers du cinéma haben Eddington vorgeworfen, die Menschheit der desaströsen Mittelmäßigkeit zu bezichtigen. Die konkurrierende Filmzeitschrift Positif indes macht auf Asters Gratwanderung aufmerksam und befürchtet, er sei dabei abgestürzt. Danach ist es ihm nicht gelungen, mit der Corona-Pandemie als Katalysator die innere Zerrissenheit und Polarisierung der USA vorzuführen, sondern der ‚Wokeness‘ die Schuld für das Abdriften des Landes nach Rechts zuzuschieben.

Tatsächlich erscheint die Anführerin der Protestierenden, Sarah (Amélie Hoeferle), mit ihren Schwierigkeiten, als Weiße eine ethisch astreine Position zum Rassismus zu beziehen, kaum weniger zweifelhaft als Cross. Aber der Hilflosigkeit ihrer Figur steht als Mahnung ihr vermeintlicher Bewunderer Brian (Cameron Mann) gegenüber, der um der beruflichen Erfolgsaussichten willen zynisch die Seite wechselt. Wegen dieses Ausgleichs und aufgrund der dezenten, aber entzifferbaren Zeichengebung der Irrealisierung darf die Gratwanderung als geglückt gelten.

Überhaupt liegt der Reiz von Eddington vielleicht nicht darin, dass er eine Parabel über die Entstehung reaktionärer Positionen liefert, sondern eine Farce über die Ohnmacht des Handelns. Dafür geht Aster über seine vorherigen Filme hinaus. Deren Protagonisten haben sich in das Schicksal gefügt, das ihrem Dasein Sinn verleiht, aber eigentlich einem Wahn entspringt. Cross hingegen ist ein aktiver Sinnsucher, erst mit seiner Bürgermeister-Kandidatur, dann – bei allen ethischen Vorbehalten – mit seiner Intrige. Bevor er entlarvt werden kann, scheint auch ihn ein Wahn zu retten.

Wie in Hereditary und Midsommar sind dessen Quelle dezidierte Überzeugungen einer Gemeinschaft, hier der Glaube an die Unbesiegbarkeit und die moralische und geistige Überlegenheit des Einzelnen gegenüber der Gruppe. Es ist der Glaube an das Band zwischen Ich und Welt, an das sensomotorische Band, das Selbstwirksamkeit erlaubt, insofern eine adäquate Wahrnehmung der Realität zu einer adäquaten Handlung in dieser führen kann. Dieser Glaube stemmt sich gegen das, was Deleuze als Zersetzung des „Handlungs-, Wahrnehmungs- und Affektsystems“ beschreibt, die für die Realität ebenso wie für den Film zu konstatieren ist:

„Es ist kaum noch glaubhaft, daß eine globale Situation eine Aktion, die Veränderungen bewirkt, auslösen könnte, und ebensowenig ist noch vorstellbar, dass eine Aktion eine Situation veranlassen könnte, sich, und sei es nur teilweise, zu enthüllen. […] Von der Krise sind gleichermaßen das Aktionsbild und der amerikanische Traum betroffen“ (Gilles Deleuze, Das Bewegungs-Bild, 1990 (2. Aufl.), S. 277-281).

Mit Eddington lehrt Aster erneut das Fürchten – diesmal über den wahnhaften Glauben an die Macht des Einzelnen. Aber er verspottet ihn auch wie Ashbys Willkommen Mr. Chance und entlarvt seinen Missbrauch wie Pakulas Zeuge einer Verschwörung, ironisiert den Waffengebrauch wie Peckinpahs Killer-Elite und verabschiedet den amerikanischen Traum wie Junior Bonner.

Andreas Günther 

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