Samstag, 1. November 2025

Was hält den (literarischen) Roman (noch) zusammen?

 

Zu Timothy Bewes ´ Abhandlung Free indirect. The novel in a postfictional age. New York: Columbia University Press, 2022.

Dichtung contra Verschwörungsschwurbelei: In der ambitionierten Prosa der Gegenwart kommen Leid und Entdeckungslust darüber zur Sprache, dass nichts mehr richtig zusammen(zu)gehören (scheint), darf, kann oder soll. Was aber gibt dann einem Roman noch Kohärenz?

Keine Tendenz in der Literatur, zu der sich nicht eine Gegentendenz herausbilden würde. So alt wie Verschwörungstheorien ist vermutlich auch die Gattung des Verschwörungsromans. Um nur einige prominente Beispiele zu nennen: Auf des Grafen Jan Potockis Die Abenteuer in der Sierra Morena oder Die Handschriften von Saragossa, um 1800 niedergeschrieben, folgten, nicht zuletzt von der Geschichtsschreibung über den Zweiten Weltkrieg und den Watergate-Enthüllungen beflügelt, in der neueren Literaturgeschichte einschlägig gewordene Werke von Thomas Pynchon, David Foster Wallace, Philip Roth und J. G. Ballard. Aber nun, da die Verschwörungsschwurbelei auf Marktplätzen und in sozialen Medien ihren Höhepunkt erreicht zu haben scheint, stößt sie auf die hochartistische Gegenstimme der ambitionierten Literatur. Demnach kann es keine Verschwörungen geben, jedenfalls keine umfang- und folgenreichen. Sie sind logisch ausgeschlossen, weil effektives intentionales Handeln unmöglich ist. Zu dieser Folgerung veranlasst Timothy Bewes Abhandlung Free indirect. The novel in a postfictional age.

Dabei ist, mit Lukács gesprochen, nicht vom Unterhaltungsroman die Rede, der sich dadurch auszeichnet, dass ein Problem gestellt und gelöst wird, etwa im Kriminalroman, sondern vom Roman im literarischen Sinne, für den die behandelten Problematiken als ebenso konstitutiv wie unlösbar zu erachten sind. Zu Bewes Kronzeugen, deren Werke in diese Kategorie fallen, zählen Rachel Cusk (Outline, New York 2015), W.G. Sebald (Die Ringe des Saturn, F. a. M. 2020, 15. Aufl.), J. M. Coetzee (Elizabeth Costello, F. a. M. 2006). In den Werken fällt Bewes auf, dass die Verbindung zwischen Text und Welt gekappt wird, aber auch zu einem Denken, das verkörpert und/oder auf irgendeine Autorität rückführbar wäre. Stattdessen würden gar Räume der Nichtverbindung eröffnet oder aufgezeigt (S. 6). Diese Literatur steht in Bewes Sicht gegen eine Welt, die durch (Tele-)Kommunikation zusammengefügt ist oder zumindest scheint, d. h. gegen den Eindruck einer „interconnected, networked, economically administered society“ (19).

Zwar wirkt diese Einstellung bei Bewes bisweilen wie eine Widerstandshaltung. Aber es überwiegt doch, dass den Dichtern die höhere Einsicht zugesprochen wird, wie es um Mensch und Welt steht. Vertraut man ihnen, sind wir gegen den Anschein nicht wirklich, nicht mit/in unserem eigentlichen Wesen vernetzt, sondern vielmehr losgelöst. Ohne Vernetzung gibt es aber keine wirkungsvolle Handlungsentfaltung. Denn Vernetzung bildet nach Foucaults Dispositiv-Verständnis (Dispositive der Macht, Berlin 1977, S. 119) die Voraussetzung des Handelns, als Geflecht von Interaktions- wie Kommunikationspraktiken und deren anthropomorpher (die eigene Stimme, Gebärde etc.) oder technischer (telekommunikativer) Realisierung. Ist diese Voraussetzung jedoch nicht gegeben oder defizitär, kann es keine schlimmen Verschwörungen geben. Denn  sie bedürfen der potenten Vernetzung, um geplant zu werden und ihre Ziele durchzusetzen, in Form globaler oder auch nur nationaler Überwachung und Manipulation.

Die neuen Dichter sind in ihrer höheren Einsicht nicht ohne Vorgänger. Ahnungen finden sich nach Bewes in Flauberts Madame Bovary und Conrads Lord Jim. Philosophisch ausformuliert findet er sie in Gilles Deleuzes zweitem Kinobuch, Das Zeit-Bild (1991, S.224, 226), und insbesondere in folgenden Thesen:

„Das wesentliche Merkmal der neuen Zeit besteht darin, daß wir nicht mehr an diese Welt glauben. Wir glauben sogar nicht mehr an die Ereignisse, die uns widerfahren: an Liebe und Tod, als ob sie uns nur zur Hälfte angingen. […] Das Band zwischen Mensch und Welt ist zerrissen.[…] Dies ist der erste Aspekt des neuen Kinos: der Bruch mit dem sensomotorischen Band (Aktionsbild), und mehr noch der Bruch des Bandes zwischen Mensch und Welt.“

Das Zerreißen des sensomotorischen Bandes ist bereits anlässlich des Films Reflet dans un diamant mort/Reflection in a dead diamond besprochen worden. Eine adäquate Wahrnehmung der Realität ist nicht mehr möglich, und erst recht nicht eine daraus ableitbare adäquate Handlung, um auf das Wahrgenommene zu reagieren. Wenn dies ein allgemeiner Zustand ist, haben Verschwörungen so wenig eine Chance wie die planmäßige Beförderung des Guten.

Der Bruch zwischen Mensch und Welt korrespondiert bei Deleuze einem der drei Aspekte eines neuen Modells des Denkens, das sich des menschlichen Geistes bemächtigt und in einer spezifischen Form des Kinos – dem Kino des Zeitbildes – Gestalt annimmt. Gedacht werden kann gemäß den drei Aspekten erstens nicht mehr eine Ganzheit von Welt in Bildern, sondern nurmehr die Welt unter Maßgabe ihrer Fragmentierung durch das Eindringen eines sich zwischen die Bilder schiebenden mysteriösen Außen. Zweitens folgt das Ausdrücken der Gedanken nicht mehr dem Muster des inneren Monologs, sondern der Heterogenität der erlebten Rede, die beständig zwischen Figgurenrede und Erzählerrede, dem Selbst und einer fremden Instanz oszilliert. Drittens nun zerbricht die Einheit des Menschen mit der Welt. Ein Bruch ist entstanden, der nur noch den Glauben an die Welt und die Verbindung erlaubt (Das Zeit-Bild, 1991, 243). Dieser Glaube wird zum Gegenstand eines Denkens des Undenkbaren, das als einziges der Banalität – Liebe, Tod etc. sind zu Klischees verblasst - entgegenwirkt, die der Weltverlust nach sich zieht (220-221). Deleuze versteht sich selbst nicht, wenn er das im neueren Film weit verbreitete Motiv der Verschwörung nicht auch dem – verzweifelten - Glauben an das Band zwischen Mensch und Welt zuschlägt.

Wenn aber Aktivität sich aufgrund des Bruchs zwischen Mensch  und Welt nicht mehr lohnt, gibt es auch im Roman nichts mehr zu tun - und er fällt auseinander. Denn bekanntlich lebt ein Roman davon, das ein oder mehrere Wesen - menschlicher oder anderer Natur - nach irgendetwas streben, sei es Geld, Glück oder Liebe oder alles drei oder noch nach etwas ganz anderem, vielleicht Altruistischem. Gehen Subjekt und Objekt und ihre Beziehung auf- und zueinander verloren, geht der Roman verloren. Was kann den Roman stattdessen zusammenhalten? Bewes´ Nachweis der Nichtverbindung hat selbst das Zeug zur Neu- oder Alternativverbindung.

Mit Deleuzes Bemerkung, Godard übertrage die „spezifischen Mächte des Romans auf den Film“ (243), die eigentlich nur auf den Gebrauch der erlebten Rede gemünzt ist, glaubt Bewes die Annahme rechtfertigen zu können, dass Deleuze das gesamte neue Denkmodell der Literatur entlehnt habe, und wagt nun, dieses in der Gegenwartsliteratur wiederzuerkennen. Und zwar als eine Form des Denkens, die der gewollten Verbindung von Mensch und Welt sich enthebt, insofern sie nicht ontologisierbar ist. Bewes nimmt dafür das mysteriöse - mystische? – ‚Außen‘ in Anspruch, von dem Deleuze spricht. Bewes spricht von einem

„noninstrumental, nonsubjetively, inhabitable, nontransferable and therefore nonindeological thought specific to the novel, a thought that takes place at the limits of the novel´s formal qualities” (Free indirect, S. 6).

Das Vagabundieren des nichtontologisierbaren Gedankens an den Grenzen der formalen Eigenschaften des Romans bezeichnet Bewes sehr versuchsweise als Prozess des ‚free indirect‘, abgeleitet vom Begriff des free indirect discourse, englische Version des Terminus der erlebten Rede, aber keineswegs damit identisch. Ausgedrückt wird eine Expansion von Dezentrierung und Deauthorisierung des literarischen Diskurses hin zur Möglichkeit eines Gedankens, der nicht mehr den romanhaften Formen der Problembeschreibung verbunden ist (38), sondern diese erodieren lässt und in einen Zustand der Postfiktion durch Auflösung der Konfiguration von Fiktion führt (140).

Am Greifbarsten wird Bewes´ ‚free indirect‘ im Nachweis der Unmöglichkeit von Exemplarität bei W. G. Sebald. Logische Beziehungen sind von Unsicherheit gezeichnet und taugen nicht mehr dazu, eine Ganzheit, die logisch erklärbar wäre, zu authentifizieren. Als Vorformen des ‚free indirect‘ erscheinen das inhaltsindifferente Bündeln von Handlungssträngen durch das Chronotope (Bachtin), die Extemporalität bei Proust, die Atmosphäre bei Flaubert und die Erneuerung klischeehafter Romanmomente durch verfremdenden Darstellungsmodus bei Conrad. Aber wie auch immer: ‚Free indirect‘ oder die letztgenannten Darstellungslösungen sind es, die den Roman (noch) zusammenhalten – im Akt oder zumindest Schatten der Negation des Zusammenhalts, als Paradox.

Andreas Günther 

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