Samstag, 25. Oktober 2025

Cinédrame der unendlichen Häutungen

 

Zum Film Reflet dans un diamant mort/Reflection in a dead diamond von Hélène Cattet und Bruno Forzani.( Kinostart: 9.10.2025)

Kino als Zwiebel: Gewandet als Hommage an die Eurospy-/Giallo-Streifen der 1960er und -70er Jahre, wird nach deleuzschem Lesemodell die Krise des sensationsheischenden aktionsbasierten Unterhaltungsfilms seziert. Stupende Lehren zum Wutbürgertum sind nicht ausgeschlossen.

‚Cinédrame‘ scheint für Reflet dans un diamant mort/Reflection in a dead diamond des Autoren- und Regie-Duos Cattet und Forzani die angemessenste Gattungsbezeichnung – freilich in einer radikalisierten Bedeutung. ‚Cinédrame‘ meint eigentlich einen besonders dramatisch angelegten Film bzw. eine Mischung aus Theater und Film. Doch das Cinédrame, um das es an dieser Stelle geht, dreht sich nicht um Personen, sondern um das Kino selbst in seiner Form des sensationsheischenden aktionsbasierten Unterhaltungsfilms. Als Hommage auf das Eurospy-Genre der 1960er und -70er Jahre, etwa die OSS 117-Serie, versetzt mit blutigen und fetischisierenden Akzenten des italienischen Giallo, nimmt es Gestalt an. Seine Versinnbildlichung findet es in einem älteren Herrn namens John Diman.

Jedenfalls nennt er sich so in dem Luxushotel, an dessen Kieselstand er täglich Martinis schlürft. Die Färbung dünnen Blutes, die sein Getränk hat, reicht aus, um in ihm Erinnerungen an blutige Zweikämpfe mit allen Arten von Gegenständen mit Schneidepotenzial, an halsbrecherische Verfolgungsjagden und schmatzend zerplatzende Köpfe wachzurufen. Aber was sind das für Erinnerungen? Sind es die eines Kinogängers, der sich in die Heldenrolle projiziert hat, oder ist John Diman tatsächlich ein Geheimagent gewesen, der sich immer noch vor seiner geheimnisvollen Gegenspielerin Serpentik (Maria de Medeiros) fürchten muss und deshalb nicht auf das Schulterhalfter mit Pistole verzichten kann. Als seine junge, hübsche Zimmernachbarin erst verschwindet und dann vergiftet am Strand aufgefunden wird, glaubt Diman (wieder) handeln zu müssen, um ihren Tod zu rächen.

Bis die Gegenwart mit einer Vergangenheit verschmilzt, die vielleicht nie war, lassen sich Rahmen- und Binnengeschehen stilistisch gut unterscheiden. Die Vorgänge im und um das Luxushotel sind von geradezu bestürzender Ruhe und Melancholie, die nur von den Wellen am Strand gestört wird. Mit hellem Hut, Sakko und Reglosigkeit gibt Fabio Testi den alten Diman als Wiedergänger des Komponisten in Viscontis Tod in Venedig-Verfilmung. Nur ist das Objekt des Begehrens wie der Furcht weiblich. 

 

John Diman (Fabio Testi), ein älterer Herr wie aus einem Visconti-Film...

 

Aber im Universum des jüngeren Diman (Yannick Renier) ist das Meiste fragmentiert und entstellt. Cattet und Forzani erzählen hier weniger als dass sie Reizmomente und Fetischobjekte aneinanderreihen. Die Großaufnahme ist ihre liebste Einstellung, von Gesten und Körperteilen, Waffen und (maskierten) Gesichtern, Diamanten und Gadgets – und immer wieder Augen, Augen, Augen. Rauschhafte Bildverknüpfung koexistiert mit Bildtumult. Unaufhörlich färben sich die Einstellungen ein, pulsieren, ruckeln, erstarren, entpuppen sich als Spiegelungen, verwandeln sich in Comic-Panels. Unaufhaltsam ist der Drang zur Verflüssigung. Meere von Diamanten, von Blut, von Glassplittern, von Flammen werden zum visuellen Echo der Wogen, die sich an der Küste vor dem Luxushotel brechen.

 

Reflection in a dead Diamond (Fabio Testi) [Kino] | Movieside
John Diman (Yannick Renier) könnte in jüngeren Jahren so ausgesehen haben und Geheimagent gewesen sein.

Falls Cattet und Forzani Gilles Deleuzes zweites Kinobuch Das Zeit-Bild und insbesondere das Kapitel über „Die Zeitkristalle“ (1991, S. 95 ff.) gelesen haben, so ist ihnen mit ihrem neuen Film eine glänzende Umsetzung als kreative Analyse des Genre-Kinos gelungen. Wenn nicht, lässt sich der Film mit Deleuzes Ansatz doch gut verstehen. Deleuzes Zeit-Bild ist der direkten Auseinandersetzung mit Zeit im Film, ohne den Umweg über die Bewegung, gewidmet. Das Kapitel „Die Zeitkristalle“ behandelt die Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart bis zur Verschmelzung beider. Deleuze sieht ihr Verhältnis zueinander in  „drei Arten des kristallinen Kreislaufs […]: im Aktuellen und Virtuellen (oder den beiden gegenüberliegenden Spiegeln); im Reinen und Undurchsichtigen sowie in Keim und Umwelt“ (99). Aus dieser Perspektive betrachtet, erweist sich Cattets und Forzanis Film als subtile Infragestellung von Handlungsfähigkeit in der Fiktion wie in der Realität.

Immer wieder suchen sich die Akteure bei Cattet und Forzani spiegelnde Flächen anzueignen, sei es, dass sie sich in Glasscherben suhlen wie eine der Inkarnationen von Serpentik oder ein Kleid aus metallenen Pailletten tragen wie eine Kollegin von Diman (Céline Camara). Wie empfindliches Filmmaterial speichern sie Aktualität und verwandeln sie in Virtualität dessen, was geschehen ist, und depotenzieren dadurch ihre Gegner. „Wenn die virtuellen Bilder sich […] vermehren, wird die ganze Aktualität der Person von ihnen absorbiert, während die Person nur noch eine Virtualität unter anderen ist“ (97). So ergeht es dem Urheber des Femizids an Dimans Kollegin, der auf einer der Pailletten ihres Kleides aufgezeichnet ist, wodurch Diman ihm auf die Spur kommt.

Reflection In A Dead Diamond - Film 2025 - FILMSTARTS.de
Das Kleid von Dimans Kollegin (Céline Camara) mit spiegelnden runden Flächen.

Aber während – das ist die zweite Art des kristallinen Kreislaufs – Diman das Gesicht des Mörders klar erkennen kann, bleibt ihm das Gesicht von Serpentik aufgrund der Beliebigkeit ihrer Inkarnationen verborgen, zeigt es sich nicht in der Zeit. Dies verweist auf die dritte Art des kristallinen Kreislaufs: Wer oder was ist Serpentik, der Keim für eine Rache-Umwelt, welcher der Frauenmörder zum Opfer fällt, noch ehe Diman eingreifen kann? Der Ursprung/die Urheberin dieser Taten hört nicht auf, sich Raum und Zeit zu entziehen. Alle Schnitte in die Gesichter der Gegner*innen erweisen sich als Schnitte in Masken, unter denen sich weitere Masken befinden, und darunter wiederum Masken…Bis anstelle eines Körpers, der einer realen Zeit angehören würde, nur ein Haufen fleischfarbenes Latex übrigbleibt…Diman treibt die Suche nach Serpentiks Ursprung an die Grenze der Selbstreferenzialität und darüber hinaus, nämlich ins Reich der Filmproduktion, in dem zigarrensaugende Produzenten mit Serpentik einen Superstar aufbauen und Diman ein Action-Darsteller im Niedergang ist, für den Ersatz gesucht wird. Und das Filmblut nach Schokolade schmeckt. Das Kino ist eine Zwiebel, das Cinédrame hört nicht auf, seine Häutungen zu zeigen.

Reflection in a dead Diamond (Fabio Testi) [Kino] | Movieside
Wenn die Pistole versagt...

 

Die kristallinen Kreisläufe münden in Reflet dans un diamant mort/Reflection in a dead diamond in Ausweglosigkeit. Im ersten Kinobuch Das Bewegungs-Bild (2. Aufl. 1990, S. 275 ff.) hat Deleuze dies mit dem Reißen des so genannten sensomotorischen Bandes begründet, dem Verlust der Gewissheit, dass es eine angemessene Wahrnehmung der Realität geben kann, so dass dieser Realität mit einer angemessenen Handlung begegnet werden kann. Die Selbstverständlichkeit der Selbstwirksamkeit geht verloren, weil die Welt zu komplex erscheint bzw. sich durch ihre Bilder lähmt. Das Unbehagen, das damit verbunden ist, wird gegenwärtig gern mit Zorn oder Wut betäubt. So wie bei dem alten Diman, der, nachdem seine Pistole versagt hat, mit einem Eisenrohr auf den vermeintlichen Mörder seiner Zimmernachbarin einschlägt.

Andreas Günther


Keine Kommentare:

Ergreifend manipulativ

  Zu Joachim Triers Film Sentimental Value (Kinostart: 4.12.2025) Fast eine Mogelpackung: Sentimental Value ist ein hervorragend gespie...