Samstag, 1. November 2025

Was hält den (literarischen) Roman (noch) zusammen?

 

Zu Timothy Bewes ´ Abhandlung Free indirect. The novel in a postfictional age. New York: Columbia University Press, 2022.

Dichtung contra Verschwörungsschwurbelei: In der ambitionierten Prosa der Gegenwart kommen Leid und Entdeckungslust darüber zur Sprache, dass nichts mehr richtig zusammen(zu)gehören (scheint), darf, kann oder soll. Was aber gibt dann einem Roman noch Kohärenz?

Keine Tendenz in der Literatur, zu der sich nicht eine Gegentendenz herausbilden würde. So alt wie Verschwörungstheorien ist vermutlich auch die Gattung des Verschwörungsromans. Um nur einige prominente Beispiele zu nennen: Auf des Grafen Jan Potockis Die Abenteuer in der Sierra Morena oder Die Handschriften von Saragossa, um 1800 niedergeschrieben, folgten, nicht zuletzt von der Geschichtsschreibung über den Zweiten Weltkrieg und den Watergate-Enthüllungen beflügelt, in der neueren Literaturgeschichte einschlägig gewordene Werke von Thomas Pynchon, David Foster Wallace, Philip Roth und J. G. Ballard. Aber nun, da die Verschwörungsschwurbelei auf Marktplätzen und in sozialen Medien ihren Höhepunkt erreicht zu haben scheint, stößt sie auf die hochartistische Gegenstimme der ambitionierten Literatur. Demnach kann es keine Verschwörungen geben, jedenfalls keine umfang- und folgenreichen. Sie sind logisch ausgeschlossen, weil effektives intentionales Handeln unmöglich ist. Zu dieser Folgerung veranlasst Timothy Bewes Abhandlung Free indirect. The novel in a postfictional age.

Dabei ist, mit Lukács gesprochen, nicht vom Unterhaltungsroman die Rede, der sich dadurch auszeichnet, dass ein Problem gestellt und gelöst wird, etwa im Kriminalroman, sondern vom Roman im literarischen Sinne, für den die behandelten Problematiken als ebenso konstitutiv wie unlösbar zu erachten sind. Zu Bewes Kronzeugen, deren Werke in diese Kategorie fallen, zählen Rachel Cusk (Outline, New York 2015), W.G. Sebald (Die Ringe des Saturn, F. a. M. 2020, 15. Aufl.), J. M. Coetzee (Elizabeth Costello, F. a. M. 2006). In den Werken fällt Bewes auf, dass die Verbindung zwischen Text und Welt gekappt wird, aber auch zu einem Denken, das verkörpert und/oder auf irgendeine Autorität rückführbar wäre. Stattdessen würden gar Räume der Nichtverbindung eröffnet oder aufgezeigt (S. 6). Diese Literatur steht in Bewes Sicht gegen eine Welt, die durch (Tele-)Kommunikation zusammengefügt ist oder zumindest scheint, d. h. gegen den Eindruck einer „interconnected, networked, economically administered society“ (19).

Zwar wirkt diese Einstellung bei Bewes bisweilen wie eine Widerstandshaltung. Aber es überwiegt doch, dass den Dichtern die höhere Einsicht zugesprochen wird, wie es um Mensch und Welt steht. Vertraut man ihnen, sind wir gegen den Anschein nicht wirklich, nicht mit/in unserem eigentlichen Wesen vernetzt, sondern vielmehr losgelöst. Ohne Vernetzung gibt es aber keine wirkungsvolle Handlungsentfaltung. Denn Vernetzung bildet nach Foucaults Dispositiv-Verständnis (Dispositive der Macht, Berlin 1977, S. 119) die Voraussetzung des Handelns, als Geflecht von Interaktions- wie Kommunikationspraktiken und deren anthropomorpher (die eigene Stimme, Gebärde etc.) oder technischer (telekommunikativer) Realisierung. Ist diese Voraussetzung jedoch nicht gegeben oder defizitär, kann es keine schlimmen Verschwörungen geben. Denn  sie bedürfen der potenten Vernetzung, um geplant zu werden und ihre Ziele durchzusetzen, in Form globaler oder auch nur nationaler Überwachung und Manipulation.

Die neuen Dichter sind in ihrer höheren Einsicht nicht ohne Vorgänger. Ahnungen finden sich nach Bewes in Flauberts Madame Bovary und Conrads Lord Jim. Philosophisch ausformuliert findet er sie in Gilles Deleuzes zweitem Kinobuch, Das Zeit-Bild (1991, S.224, 226), und insbesondere in folgenden Thesen:

„Das wesentliche Merkmal der neuen Zeit besteht darin, daß wir nicht mehr an diese Welt glauben. Wir glauben sogar nicht mehr an die Ereignisse, die uns widerfahren: an Liebe und Tod, als ob sie uns nur zur Hälfte angingen. […] Das Band zwischen Mensch und Welt ist zerrissen.[…] Dies ist der erste Aspekt des neuen Kinos: der Bruch mit dem sensomotorischen Band (Aktionsbild), und mehr noch der Bruch des Bandes zwischen Mensch und Welt.“

Das Zerreißen des sensomotorischen Bandes ist bereits anlässlich des Films Reflet dans un diamant mort/Reflection in a dead diamond besprochen worden. Eine adäquate Wahrnehmung der Realität ist nicht mehr möglich, und erst recht nicht eine daraus ableitbare adäquate Handlung, um auf das Wahrgenommene zu reagieren. Wenn dies ein allgemeiner Zustand ist, haben Verschwörungen so wenig eine Chance wie die planmäßige Beförderung des Guten.

Der Bruch zwischen Mensch und Welt korrespondiert bei Deleuze einem der drei Aspekte eines neuen Modells des Denkens, das sich des menschlichen Geistes bemächtigt und in einer spezifischen Form des Kinos – dem Kino des Zeitbildes – Gestalt annimmt. Gedacht werden kann gemäß den drei Aspekten erstens nicht mehr eine Ganzheit von Welt in Bildern, sondern nurmehr die Welt unter Maßgabe ihrer Fragmentierung durch das Eindringen eines sich zwischen die Bilder schiebenden mysteriösen Außen. Zweitens folgt das Ausdrücken der Gedanken nicht mehr dem Muster des inneren Monologs, sondern der Heterogenität der erlebten Rede, die beständig zwischen Figgurenrede und Erzählerrede, dem Selbst und einer fremden Instanz oszilliert. Drittens nun zerbricht die Einheit des Menschen mit der Welt. Ein Bruch ist entstanden, der nur noch den Glauben an die Welt und die Verbindung erlaubt (Das Zeit-Bild, 1991, 243). Dieser Glaube wird zum Gegenstand eines Denkens des Undenkbaren, das als einziges der Banalität – Liebe, Tod etc. sind zu Klischees verblasst - entgegenwirkt, die der Weltverlust nach sich zieht (220-221). Deleuze versteht sich selbst nicht, wenn er das im neueren Film weit verbreitete Motiv der Verschwörung nicht auch dem – verzweifelten - Glauben an das Band zwischen Mensch und Welt zuschlägt.

Wenn aber Aktivität sich aufgrund des Bruchs zwischen Mensch  und Welt nicht mehr lohnt, gibt es auch im Roman nichts mehr zu tun - und er fällt auseinander. Denn bekanntlich lebt ein Roman davon, das ein oder mehrere Wesen - menschlicher oder anderer Natur - nach irgendetwas streben, sei es Geld, Glück oder Liebe oder alles drei oder noch nach etwas ganz anderem, vielleicht Altruistischem. Gehen Subjekt und Objekt und ihre Beziehung auf- und zueinander verloren, geht der Roman verloren. Was kann den Roman stattdessen zusammenhalten? Bewes´ Nachweis der Nichtverbindung hat selbst das Zeug zur Neu- oder Alternativverbindung.

Mit Deleuzes Bemerkung, Godard übertrage die „spezifischen Mächte des Romans auf den Film“ (243), die eigentlich nur auf den Gebrauch der erlebten Rede gemünzt ist, glaubt Bewes die Annahme rechtfertigen zu können, dass Deleuze das gesamte neue Denkmodell der Literatur entlehnt habe, und wagt nun, dieses in der Gegenwartsliteratur wiederzuerkennen. Und zwar als eine Form des Denkens, die der gewollten Verbindung von Mensch und Welt sich enthebt, insofern sie nicht ontologisierbar ist. Bewes nimmt dafür das mysteriöse - mystische? – ‚Außen‘ in Anspruch, von dem Deleuze spricht. Bewes spricht von einem

„noninstrumental, nonsubjetively, inhabitable, nontransferable and therefore nonindeological thought specific to the novel, a thought that takes place at the limits of the novel´s formal qualities” (Free indirect, S. 6).

Das Vagabundieren des nichtontologisierbaren Gedankens an den Grenzen der formalen Eigenschaften des Romans bezeichnet Bewes sehr versuchsweise als Prozess des ‚free indirect‘, abgeleitet vom Begriff des free indirect discourse, englische Version des Terminus der erlebten Rede, aber keineswegs damit identisch. Ausgedrückt wird eine Expansion von Dezentrierung und Deauthorisierung des literarischen Diskurses hin zur Möglichkeit eines Gedankens, der nicht mehr den romanhaften Formen der Problembeschreibung verbunden ist (38), sondern diese erodieren lässt und in einen Zustand der Postfiktion durch Auflösung der Konfiguration von Fiktion führt (140).

Am Greifbarsten wird Bewes´ ‚free indirect‘ im Nachweis der Unmöglichkeit von Exemplarität bei W. G. Sebald. Logische Beziehungen sind von Unsicherheit gezeichnet und taugen nicht mehr dazu, eine Ganzheit, die logisch erklärbar wäre, zu authentifizieren. Als Vorformen des ‚free indirect‘ erscheinen das inhaltsindifferente Bündeln von Handlungssträngen durch das Chronotope (Bachtin), die Extemporalität bei Proust, die Atmosphäre bei Flaubert und die Erneuerung klischeehafter Romanmomente durch verfremdenden Darstellungsmodus bei Conrad. Aber wie auch immer: ‚Free indirect‘ oder die letztgenannten Darstellungslösungen sind es, die den Roman (noch) zusammenhalten – im Akt oder zumindest Schatten der Negation des Zusammenhalts, als Paradox.

Andreas Günther 

Samstag, 25. Oktober 2025

Cinédrame der unendlichen Häutungen

 

Zum Film Reflet dans un diamant mort/Reflection in a dead diamond von Hélène Cattet und Bruno Forzani.( Kinostart: 9.10.2025)

Kino als Zwiebel: Gewandet als Hommage an die Eurospy-/Giallo-Streifen der 1960er und -70er Jahre, wird nach deleuzschem Lesemodell die Krise des sensationsheischenden aktionsbasierten Unterhaltungsfilms seziert. Stupende Lehren zum Wutbürgertum sind nicht ausgeschlossen.

‚Cinédrame‘ scheint für Reflet dans un diamant mort/Reflection in a dead diamond des Autoren- und Regie-Duos Cattet und Forzani die angemessenste Gattungsbezeichnung – freilich in einer radikalisierten Bedeutung. ‚Cinédrame‘ meint eigentlich einen besonders dramatisch angelegten Film bzw. eine Mischung aus Theater und Film. Doch das Cinédrame, um das es an dieser Stelle geht, dreht sich nicht um Personen, sondern um das Kino selbst in seiner Form des sensationsheischenden aktionsbasierten Unterhaltungsfilms. Als Hommage auf das Eurospy-Genre der 1960er und -70er Jahre, etwa die OSS 117-Serie, versetzt mit blutigen und fetischisierenden Akzenten des italienischen Giallo, nimmt es Gestalt an. Seine Versinnbildlichung findet es in einem älteren Herrn namens John Diman.

Jedenfalls nennt er sich so in dem Luxushotel, an dessen Kieselstand er täglich Martinis schlürft. Die Färbung dünnen Blutes, die sein Getränk hat, reicht aus, um in ihm Erinnerungen an blutige Zweikämpfe mit allen Arten von Gegenständen mit Schneidepotenzial, an halsbrecherische Verfolgungsjagden und schmatzend zerplatzende Köpfe wachzurufen. Aber was sind das für Erinnerungen? Sind es die eines Kinogängers, der sich in die Heldenrolle projiziert hat, oder ist John Diman tatsächlich ein Geheimagent gewesen, der sich immer noch vor seiner geheimnisvollen Gegenspielerin Serpentik (Maria de Medeiros) fürchten muss und deshalb nicht auf das Schulterhalfter mit Pistole verzichten kann. Als seine junge, hübsche Zimmernachbarin erst verschwindet und dann vergiftet am Strand aufgefunden wird, glaubt Diman (wieder) handeln zu müssen, um ihren Tod zu rächen.

Bis die Gegenwart mit einer Vergangenheit verschmilzt, die vielleicht nie war, lassen sich Rahmen- und Binnengeschehen stilistisch gut unterscheiden. Die Vorgänge im und um das Luxushotel sind von geradezu bestürzender Ruhe und Melancholie, die nur von den Wellen am Strand gestört wird. Mit hellem Hut, Sakko und Reglosigkeit gibt Fabio Testi den alten Diman als Wiedergänger des Komponisten in Viscontis Tod in Venedig-Verfilmung. Nur ist das Objekt des Begehrens wie der Furcht weiblich. 

 

John Diman (Fabio Testi), ein älterer Herr wie aus einem Visconti-Film...

 

Aber im Universum des jüngeren Diman (Yannick Renier) ist das Meiste fragmentiert und entstellt. Cattet und Forzani erzählen hier weniger als dass sie Reizmomente und Fetischobjekte aneinanderreihen. Die Großaufnahme ist ihre liebste Einstellung, von Gesten und Körperteilen, Waffen und (maskierten) Gesichtern, Diamanten und Gadgets – und immer wieder Augen, Augen, Augen. Rauschhafte Bildverknüpfung koexistiert mit Bildtumult. Unaufhörlich färben sich die Einstellungen ein, pulsieren, ruckeln, erstarren, entpuppen sich als Spiegelungen, verwandeln sich in Comic-Panels. Unaufhaltsam ist der Drang zur Verflüssigung. Meere von Diamanten, von Blut, von Glassplittern, von Flammen werden zum visuellen Echo der Wogen, die sich an der Küste vor dem Luxushotel brechen.

 

Reflection in a dead Diamond (Fabio Testi) [Kino] | Movieside
John Diman (Yannick Renier) könnte in jüngeren Jahren so ausgesehen haben und Geheimagent gewesen sein.

Falls Cattet und Forzani Gilles Deleuzes zweites Kinobuch Das Zeit-Bild und insbesondere das Kapitel über „Die Zeitkristalle“ (1991, S. 95 ff.) gelesen haben, so ist ihnen mit ihrem neuen Film eine glänzende Umsetzung als kreative Analyse des Genre-Kinos gelungen. Wenn nicht, lässt sich der Film mit Deleuzes Ansatz doch gut verstehen. Deleuzes Zeit-Bild ist der direkten Auseinandersetzung mit Zeit im Film, ohne den Umweg über die Bewegung, gewidmet. Das Kapitel „Die Zeitkristalle“ behandelt die Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart bis zur Verschmelzung beider. Deleuze sieht ihr Verhältnis zueinander in  „drei Arten des kristallinen Kreislaufs […]: im Aktuellen und Virtuellen (oder den beiden gegenüberliegenden Spiegeln); im Reinen und Undurchsichtigen sowie in Keim und Umwelt“ (99). Aus dieser Perspektive betrachtet, erweist sich Cattets und Forzanis Film als subtile Infragestellung von Handlungsfähigkeit in der Fiktion wie in der Realität.

Immer wieder suchen sich die Akteure bei Cattet und Forzani spiegelnde Flächen anzueignen, sei es, dass sie sich in Glasscherben suhlen wie eine der Inkarnationen von Serpentik oder ein Kleid aus metallenen Pailletten tragen wie eine Kollegin von Diman (Céline Camara). Wie empfindliches Filmmaterial speichern sie Aktualität und verwandeln sie in Virtualität dessen, was geschehen ist, und depotenzieren dadurch ihre Gegner. „Wenn die virtuellen Bilder sich […] vermehren, wird die ganze Aktualität der Person von ihnen absorbiert, während die Person nur noch eine Virtualität unter anderen ist“ (97). So ergeht es dem Urheber des Femizids an Dimans Kollegin, der auf einer der Pailletten ihres Kleides aufgezeichnet ist, wodurch Diman ihm auf die Spur kommt.

Reflection In A Dead Diamond - Film 2025 - FILMSTARTS.de
Das Kleid von Dimans Kollegin (Céline Camara) mit spiegelnden runden Flächen.

Aber während – das ist die zweite Art des kristallinen Kreislaufs – Diman das Gesicht des Mörders klar erkennen kann, bleibt ihm das Gesicht von Serpentik aufgrund der Beliebigkeit ihrer Inkarnationen verborgen, zeigt es sich nicht in der Zeit. Dies verweist auf die dritte Art des kristallinen Kreislaufs: Wer oder was ist Serpentik, der Keim für eine Rache-Umwelt, welcher der Frauenmörder zum Opfer fällt, noch ehe Diman eingreifen kann? Der Ursprung/die Urheberin dieser Taten hört nicht auf, sich Raum und Zeit zu entziehen. Alle Schnitte in die Gesichter der Gegner*innen erweisen sich als Schnitte in Masken, unter denen sich weitere Masken befinden, und darunter wiederum Masken…Bis anstelle eines Körpers, der einer realen Zeit angehören würde, nur ein Haufen fleischfarbenes Latex übrigbleibt…Diman treibt die Suche nach Serpentiks Ursprung an die Grenze der Selbstreferenzialität und darüber hinaus, nämlich ins Reich der Filmproduktion, in dem zigarrensaugende Produzenten mit Serpentik einen Superstar aufbauen und Diman ein Action-Darsteller im Niedergang ist, für den Ersatz gesucht wird. Und das Filmblut nach Schokolade schmeckt. Das Kino ist eine Zwiebel, das Cinédrame hört nicht auf, seine Häutungen zu zeigen.

Reflection in a dead Diamond (Fabio Testi) [Kino] | Movieside
Wenn die Pistole versagt...

 

Die kristallinen Kreisläufe münden in Reflet dans un diamant mort/Reflection in a dead diamond in Ausweglosigkeit. Im ersten Kinobuch Das Bewegungs-Bild (2. Aufl. 1990, S. 275 ff.) hat Deleuze dies mit dem Reißen des so genannten sensomotorischen Bandes begründet, dem Verlust der Gewissheit, dass es eine angemessene Wahrnehmung der Realität geben kann, so dass dieser Realität mit einer angemessenen Handlung begegnet werden kann. Die Selbstverständlichkeit der Selbstwirksamkeit geht verloren, weil die Welt zu komplex erscheint bzw. sich durch ihre Bilder lähmt. Das Unbehagen, das damit verbunden ist, wird gegenwärtig gern mit Zorn oder Wut betäubt. So wie bei dem alten Diman, der, nachdem seine Pistole versagt hat, mit einem Eisenrohr auf den vermeintlichen Mörder seiner Zimmernachbarin einschlägt.

Andreas Günther


Samstag, 18. Oktober 2025

Schicksalsbotschaften

 

Zu den Filmen Jetzt oder gleich (2016) und Mörderische Gesellschaft (2008), die bis zum 6.11. bzw. 30.10. 2025 in der ARTE-Mediathek zur Verfügung stehen.

Leichtigkeit der Tragik: In Jetzt oder gleich und Mörderische Gesellschaft lässt Autor und Regisseur Pascal Bonitzer unter Mithilfe seiner Tochter Agathe Persönlichkeiten dessen, was man Establishment nennt, von Schicksalsbotinnen heimsuchen. Das sorgt für viel gute Laune.

Wie gut, dass es die ARTE-Mediathek mit ihren besonderen Kino-Stücken gibt. Sie erlaubt, herausragende Filme nachzuholen – am besten mit Beamer! -, die man in den Lichtspielhäusern unziemlicherweise verpasst hat. Sicher haben auch andere öffentliche Anbieter Autorenfilme in ihrem Programm – aber doch selten so subtile wie Jetzt oder gleich (2016) und Mörderische Gesellschaft (2008).

Für beider Komödien Regie und Drehbuch zeichnet Pascal Bonitzer verantwortlich. Er war Redakteur der berühmtesten Filmzeitschrift der Welt, die Cahiers du cinéma, und hat mit seinem noch viel namhafteren Schreib-Kollegen Jean-Claude Carrière (Cyrano de BergeracEine Komödie im Mai, Der diskrete Charme der Bourgeoisie...) ein vielbeachtetes Standardwerk des Drehbuchschreibens verfasst. Was nicht bedeutet, dass er als Praktiker den schematischen und gratifikationsorientierten (‚Welchen Nutzen zieht der Zuschauer aus diesem Film?‘) Dramaturgien Hollywoods folgen würde.

In Jetzt oder gleich tritt die junge Nora, gespielt von Bonitzers Tochter Agathe, in das Management eines Beratungsunternehmens ein, das auf Mergers and Acquisitions, zu deutsch: Fusionen und Übernahmen spezialisiert ist. Dabei geht es in der Regel um sehr viel Geld, nicht nur für die beteiligten Unternehmen, sondern auch für diejenigen, die die Deals einfädeln. Bonitzers Drehbuch, das er zusammen mit Agnès de Sacy, gibt Jargon und Denkweise dieser Leute überzeugend wieder. Immer sehr gut vorbereitet und sprühend vor Ideen, immer typgerecht und stilsicher gekleidet, gewinnt die schlanke, rothaarige, energische Nora schnell das Wohlwollen ihrer Chefs Barsac (Lambert Wilson) und Prévôt-Parédès (Pascal Greggory). 

Nora (Agathe Bonitzer) und Xavier (Vincent Lacoste) kämpfen hart um opulente M&A-Deals.

 

 

Dabei ahnt sie lange nicht, dass die bloße Tatsache, dass sie die Tochter des Chemikers Serge Sator ist, sie zu einer Art Sendbotin des Schicksals macht. Sie erinnert nämlich die beiden Profthaie plus Barsacs Frau Solveig (Isabelle Huppert) an die Tragik ihres Lebens, ja reißt sie in diese zurück, ruft ihre Verletzlichkeit und Menschlichkeit wach.

Die einzelne Szene überragt die erzählte Geschichte, wenn Bonitzer vier großen Schauspielern viel Raum gibt, um die anrührende Unbeholfenheit ihrer Figuren im Umgang mit jahrzehntealter Eifersucht und Rivalität darzustellen. Barsac, Prévôt-Parédès, Solveig und Serge sind einmal auf derselben Elitehochschule gewesen und haben einander anscheinend unüberwindliche seelische Verletzungen zugefügt, für die sie immer noch keine Sprache finden. Aber gerade die Sprachlosigkeit verwandelt sich zu (bisweilen makabrer) Komik.

Die vielleicht schon seit damals ständig beschwipste Solveig steigt bei Noras Besuch bei den Barsacs auf den Treppenstufen aus dem ersten Stock herab wie auf den Klangstäben eines Xylophons. Etwas später ihre Knie juchzend im kurzen Rock auf Serges Couch hin- und hierschiebend, wird sie ihren einstigen Liebhaber noch einmal zu verführen suchen. Prévôt-Parédès oszilliert zwischen Selbstmord-Versuch und abstruser Umschreibung seiner Parasiten-Paranoia. Barsac verschanzt sich hinter hilflosem Zynismus. 

Der schwerste Fall aber ist Serge, von Jean-Pierre Bacri in einer seiner letzten Rollen verkörpert: grantelig, kauzig, scheu, ja immer auf der Flucht vor seinen Mitmenschen, seit er einmal in einem Gedicht zu viel von sich und seiner Geliebten preisgegeben hat…Hart kontrastiert das Lavieren und Vermeiden der Älteren mit dem Tempo und der Abgebrühtheit, mit der Nora mit ihrem Kollegen Xavier (Vincent Lacoste) Anziehung und Abstoßung ausagiert und dabei ihre Schwester Maja (Julia Faure) auszubremsen sucht, die auch an dem jungen Mann im „Kaufhaussakko“ (ihr Wort) interessiert ist. Dass die starke junge Frau dann doch noch irgendwie zerbrechlich erscheinen muss, stört erheblich.

Foto zum Film Tout de suite maintenant - Bild 5 auf 9 - FILMSTARTS.de
Solveig (Isabelle Huppert) und Serge (Jean-Claude Bacri) kommen sich anscheinend wieder näher.

 

Mörderische Gesellschaft basiert auf Agatha Christies Kriminalroman Das Eulenhaus, eine Ermittlung von Hercule Poirot, die ich als sehr spannend und geheimnisvoll in Erinnerung habe. Bonitzer aber hat in seiner Adaption für die französische Gegenwart den legendären belgischen Detektiv gestrichen. Zwar bleibt das Rätsel erhalten, aber das herrschaftliche Anwesen, auf dem die Geschehnisse angesiedelt sind, dient vor allem als Bühne für hinreißende Schrullen und Obsessionen der Figuren, mit denen sie einander wie beim Kartenspielen übertrumpfen wollen und die das Publikum wie ein Fieber anstecken. Agathe Bonitzer spielt nur eine Nebenrolle, Lambert Wilson einen Neurochirurgen und überforderten herzenbrechenden Casanova, der, wie er in einer persönlichen Notiz schreibt, zu sich selbst zurück will, worauf ein Racheengel – der übrigens in Jetzt oder gleich letztlich auch nicht fehlt – eine tödliche Antwort hat.

Photo du film Le Grand Alibi - Photo 10 sur 21 - AlloCiné
Lambert Wilson spielt einen Neurochirurgen und überforderten Casanova.

 Andreas Günther

 

Ergreifend manipulativ

  Zu Joachim Triers Film Sentimental Value (Kinostart: 4.12.2025) Fast eine Mogelpackung: Sentimental Value ist ein hervorragend gespie...